Der Verkehr vor allem auf Autobahnen ist durch Baustellen sagen wir mal: ziemlich belastet. Eine Hauptherausforderung sind Brücken. Es gibt eine Menge davon, die ersetzt werden müssen – und zwar möglichst schnell und mit möglichst wenig Stress für die Verkehrsteilnehmer*innen. Eine neue Brücke bauen und den Verkehr dabei kaum stören – wie soll das gehen? Der konservative Ansatz „Wir bauen Brücken mit Beton und Stahl“ bringt es nicht. Denn der dauert nicht nur zu lange, sondern ist auch ungeheuer energieintensiv und klimaschädlich. Etwas wirklich Neues ist gefragt. Eine zeitgemäß unkonventionelle Lösung. Die Schnellbaubrücke.
Die große Geogitter-Idee
Auftritt Thorsten Balder und Michael Girmscheid. Balder, Brücken- und Erdbauexperte bei Heitkamp Brückenbau, und Girmscheid, Planer und konstruktiver Ingenieur bei Thomas & Bökamp, kennen und schätzen sich aus diversen büroübergreifenden Projekten. Sie verfolgten schon länger gemeinsam eine experimentelle Idee, die im Rahmen eines Pilotprojekts, unterstützt u.a. durch das Bundesverkehrsministerium, 2019 Wirklichkeit wurde.
Verkürzt klingt die Idee so: Wir nutzen Erde und Geogitter anstelle von Beton. Etwas ausführlicher so: Wir verknüpfen kunststoffbewehrte Geogitter-Widerlager als Brückenunterbau mit einem klassischen Brückenüberbau. Warum Geo-Kunststoff-bewehrte Gitter? Weil sie sich bestens zum Stabilisieren von Baugrund eignen, extrem zugfest sind und sich deutlich schneller verarbeiten lassen als Zement/Beton. Und warum Erde? Weil sie meist direkt an Baustellen verfügbar ist.
Es gibt noch einen zweiten Innovations-Aspekt bei der Schnellbaubrücke: Der Brückenüberbau wird nämlich auf einem benachbarten Parkplatz direkt NEBEN der Autobahn-Baustelle hergestellt statt wie sonst üblich: darüber. Dann wird er per Schwerlasttransporter komplett auf den innovativen Unterbau aus Geo-Kunststoff-bewehrter Erde eingehoben. Das heißt: Die Verkehrsstörung bleibt minimal. Denn alles läuft innerhalb von 2 x 48 Stunden ab: alte Brücke an einem Wochenende abreißen und am zweiten Wochenende den Überbau am Stück einheben.
Ganz einfach das Ganze also? Michael Girmscheid lacht: „Na ja, wir haben hier eine völlig neue Bauweise, die natürlich auch Eigenheiten hat.“ Er erklärt weiter, dass die Verformungen dieser Geo-Kunststoff-bewehrten Erde ganz anders sind als man sie bei der klassischen Bauweise kennt. Man musste u.a. präzise herausanalysieren: Wie steif ist so ein Geo-Kunststoff-bewehrtes Widerlager? Welche Rückschlüsse auf die Lager-Bemessung und auf die Bemessung der Übergangskonstruktion gibt es? Wie ist das Trag- und Verformungsverhalten der Konstruktion?
Thorsten Balder ergänzt, dass außerdem die Bauzustände der Schwerlastmodule während des Transports berücksichtigt und exakt berechnet werden mussten. Und schließlich musste natürlich auch geometrisch alles ganz präzise passen, damit die Brücke zwischen die Widerlager passt. „Das alles bedarf dauernder intensiver Abstimmung“, sagen Balder und Girmscheid – und atmen etwas schwer.
Ein Gesamtkunstbauwerk
Wenn man in öffentlicher Hand eine Brücke ausschreibt, ist das Prozedere normalerweise so: Ein Bauherr, z.B. „Straßen NRW“ oder die „Autobahn GmbH“, beauftragt ein Ingenieurbüro mit dem Brückenentwurf. Der Entwurf wird in Plänen ausgearbeitet und in einem Leistungsverzeichnis umgesetzt. Dann erst kommt die Baufirma ins Spiel.
Hier aber, in diesem Pilotprojekt, lief das anders. Hier haben Ingenieurbüro (in Person von Michael Girmscheid) und Baufirma (in Person von Thorsten Balder) schon zusammen den Vorentwurf gemacht. Michael Girmscheid nennt das „einen Garantiegeber für Innovation“. Gemeinsam wurden so die entscheidenden Fragen erörtert: Wie können wir alle am Bauprozess Beteiligten früh in ein Boot holen? Wer kümmert sich am besten um was? Wer kann den besten Input zu den unterschiedlichen Problemstellungen liefern? Nur symbiotisch kriegt man es hin, etwas so Komplexes wie einen Neubrückenbau in viel kürzerer Zeit als bis dahin üblich zu realisieren, ist Michael Girmscheid überzeugt.
Thorsten Balder ist es wichtig zu betonen, dass das Ganze ein Teamwork aus diversen Disziplinen ist – nicht nur aus Planung und Bau. Von Anfang an dabei sind: die Messtechnik, die Baugrunderkundung (besonders wichtig für den ökologischen Kontext und Prüfung der Umweltauflagen), die bautechnische Prüfung, der Schwertransport…
Also: Alle Disziplinen, Kompetenzen und Expert*innen von Anfang an in einem Projektteam zu bündeln und bei der bauausführenden Firma anzudocken – das scheint ein gutes Fundament für eine Ing-Innovation zu sein.
Die Win-Win-Win-Brücke
Auf die Frage, was in aller Kürze zusammengefasst die Schnellbrücke so zukunftsfähig macht, antworten Balder und Girmscheid unisono lächelnd: „Es gibt ja für die Beteiligten nur Vorteile. Alle profitieren: die Auftraggeber, die planenden und bauenden Firmen, die Verkehrsteilnehmer*innen und die Natur.“ Denn die Schnellbrücke ist verhältnismäßig günstig, ressourcenschonend und unheimlich flexibel. Sie kann beim klassischen Autobahnbrückenersatz ebenso zum Einsatz kommen wie bei Katastrophen – etwa jüngst der Flutkatastrophe. Mit dieser Konstruktion kann man geschädigte Brücken schnell ersetzen, Straßennetze flicken, Regionen wieder zugänglich machen.
Klingt fast zu gut, oder? Gibt es auch keine Bedenken wegen der Robustheit? Offenbar nicht, denn umfangreiche Mess-Monitorings in den Widerlagern belegen: Die Brücke ist in der Praxis noch deutlich robuster als das, was ursprünglich berechnet wurde. Das selbstbewusste Fazit von Thomas Balder: „Die Schnellbaubrücke hält und ist belastbar wie eine konventionelle Komplettbetonbrücke.“
Unser Fazit: Balder und Girmscheid sind besser als die Theorie.